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Warum fesselt diese Sendung so viele Spanier?

Im spanischen Fernsehen passiert gerade etwas absolut erstaunliches und ich habe für dich mal ein paar Fakten dazu gesammelt und erkläre dir was da abgeht. Mach’s dir am besten mit ner Tüte Popcorn auf deinem Sofa bequem. Los geht’s:

„Entwickelt im Hause Endemol, bescherte die Serie dem spanischen Staatssender TVE einen Aufschwung, der selbst mit populärsten Quiz-Shows, amerikanischen Action-Streifen und schamlos ausgedehnten Werbeblöcken nicht zu erreichen war. In den vier Monaten Laufzeit brach das Programm nicht nur alle Einschaltquoten, auch Pädagogen, Politiker, Kultur- und Medienkritiker waren begeistert. Jung und Alt saßen plötzlich gemeinsam vor dem Fernsehen und beklatschen die Teilnehmer.“

Wow, um welche Show geht es denn? Der neue Quotenknüller, ein neues Format? Weit gefehlt. Dieses Zitat aus der Zeitung „Der Standard“ stammt aus dem Jahre 2002. Also in Fernsehjahren gerechnet aus der grauen Vorzeit kurz nach der Liberalisierung der Achtziger und Neunziger Jahren. Und ja genau, es geht um das spanische Pendant zu DSDS. Haaalt, bevor du jetzt genervt weg klickst, will ich dir unbedingt erzählen was gerade passiert auf einem der grössten TV-Märkte Europas. Ja die Spanier lieben das Fernsehen, soweit das Klischee. Die Sendung, über welche wir hier sprechen, heisst „Operación Triunfo“ und ist quasi die Urgrossmutter aller Gesangs- und Talentshows in Europa. Wenn dir jetzt kalte Schauer über den Rücken laufen und du denkst, ich würde dich mit der selben grauenhaften Fremdschäm-Proletik wie im deutschen Fernsehen mit der ewigen Midlifecrisis namens Dieter Bohlen konfrontieren, dann hast du dich geschnitten. Klar, auch in Spanien gilt die Sendung als etwas trashig und viele getrauen sich nicht so recht zuzugeben, dass sie eben doch nicht wegschauen können. Operación Triunfo – oder kurz OT – ist aber nicht die gnadenlose Schadenfreude wie bei RTL, sondern eine durchaus ernstgemeinte Talentshow mit wenigstens ein bisschen Niveau. Ausserdem unterscheidet sie sich zusätzlich, dass sie eine Art Kombination aus Big-Brother und Talentsuche ist. Dies ist kein Zufall, die Produktionsfirma war auch der Erfinder von BigBrother, welches sich bekanntlich auch schon weltweit weiterverkaufen lies. Die Teilnehmer werden während der Show in die „Akademie“ gesperrt, wo sie wohnen und sich auf die Shows vorbereiten.

Die Operación Triunfo

Aber zunächst etwas Hintergrund. OT wurde das erste Mal 2001 ausgestrahlt und war damals eine absolute Neuheit. Interaktiv, emotional und hatte Suchtpotential. Und gib es zu, du hast damals auch vor dem Fernseher gehockt und bei der ersten Staffel in deinem Heimatland über das Phänomen dieses Formates gestaunt. OT war von Anfang an als eine Sendung für das breite Volk geplant und wurde von Endemol und TVE (Televisión Española) gemeinsam produziert. Ausserdem diente es als Vorausscheidung für den Eurovision-Songcontest, denn das Monopol dafür hielt TVE schon vorher. Nachdem in den Boom-Jahren der Satelliten-Übertragungstechnik (in Spanien spielt Kabel eher eine Nebenrolle) und der Vervielfachung des Angebotes kurz vor der Jahrtausendwende das Staatsfernsehen empfindlich gelitten hatte und die Quoten einbrachen, bescherte OT dem angestaubten Sender eine Renaissance. Das Format brachte heutige Grössen wie zum Beispiel David Bisbal hervor. Zu Spitzenzeiten schaute fast jeder zweite der damals 40 Millionen Spanier die Sendung. Während in der ersten Staffel noch Friseusen und Zimmermänner ihre Stimme erhoben, wurde es die Jahre darauf etwas exzentrischer. Und dann kam die Krise. Die Wirtschaftskrise, welche das Land bis auf die Grundfesten durchschüttelte. Das Format zog ab 2005 für einige Jahre ins Privatfernsehen um (allerdings ohne Eurovisions-Vorentscheidung, das war immer noch Sache des TVE). Die Rechte dafür kaufte Telecinco von Gestmusic, welche eine Tochter von Endemol war und diese wiederum Tochter des Telefongiganten Telefonica. 2011 starb OT dann überraschend den Quotentod nach nur 35 Tagen auf Sendung. Interessant ist der Hintergrund, dass während der Krise viele Spanier ihre TV-Abos für private Kanäle und Netzwerke kündigten, jedoch aber mehr Zeit zum Fernsehen hatten. Der Umstand ist zwar nicht ganz bewiesen, es wird aber behauptet, die Zahlen hätten ansatzweise mit den Arbeitslosenzahlen korreliert. Trotzdem konnte TVE die Quoten kaum nutzen, denn die Werbeeinnahmen brachen nach dem Ausbruch der Krise auf dramatische Weise ein.

Der Neustart

Und jetzt kommt’s, 2017 gab es eine Wiedergeburt der Sendung und zwar wiederum im Staatsfernsehen. Eigentlich denkt man sich, dass das Format doch ausgelutscht sei und rollt die Augen, weil man nach all den Jahren DSDS und Dieters Stimme kaum mehr erträgt. Doch dank der Sendepause und weil es eben kein Quotenproblem war, zumindest beim Staatsfernsehen nicht, bekam OT in Spanien eine neue Chance. Zunächst fing alles wie gewohnt an. Es gab Teilnehmer aus dem ganzen Land, meist recht junge Spanier. Leicht geänderte Regeln aber ein bereits vertrautes Konsumerlebnis. Doch diesmal ist dann doch vieles anders. Man konnte, zumindest wenn man Spanisch spricht und in Europa wohnt, der Sendung kaum entkommen. Auch wenn man dies aktiv wollte. Aus Interesse, warum eine totgeglaubte Sendung nochmal den Weg in die heimische Stuben findet, analysierten, kritisierten und rezensierten Medien die Show rauf und runter. Und dann waren da die sozialen Medien, die gab es damals 2001 noch gar nicht und als sie aufkamen spielten sie noch nicht die heutige Rolle. Plötzlich war OT wieder in aller Munde. Egal ob gut oder schlecht darüber geredet wurde, es wurde geredet. Wenn man kein Fernsehen schaute oder es sogar absichtlich vermied, es gab immer jemand, der deine Meinung wissen wollte. Oder etwas über die Sendung postete. Oder ein Freund, der etwas likte und die Algorithmen fortan auch dich mit OT-Content fast täglich und penetrant konfrontierten. Geradezu unheimlich mutete an, dass man nicht so recht wusste, ob man es nun gut finden durfte oder nicht. Der Staatssender machte keinen zur Schnecke, die Bewerber wurden nicht so krass vorgeführt wie im Privatfernsehen (wie bei Dieter) und durch die unheimlich grosse Präsenz der Hintergrundberichte aus der Akademie auf Youtube während der Woche, zeigte, dass sich die Kandidaten ernsthaft und mit grossen Anstrengungen und sehr professionell vorbereiteten. Damit wurde natürlich auch die jeweils kommende Gala angeteast. Es gab 14 Galen in den Vorentscheidungsrunden, welche am Montag Abend sehr spät und damit für die spanische Kultur zur besten Sendezeit ausgestrahlt wurden. Die Lieder dieser Montagsshow waren in einem atemberaubenden Tempo quasi über Nacht bereits zwei Tage später fertig eingesungen und bei Spotify, iTunes usw. zu hören oder kaufen.

Agoney’s Interpretation von „Eloise“

Übungsrunde während der Woche vor der Show

Rezeption in der Gesellschaft

Auch anders war, dass es aufgrund gesellschaftlicher Prozesse nun ernsthafter zuging. Bespasste man das Volk während der Wirtschaftswunderzeit der Nullerjahre quasi noch einfach mit Brot und Spielen, hatte die Sendung dieses Mal durch die Krise den Touch einer veränderten Wahrnehmung von Hoffnung, Glück und Erfolg. Die meisten Teilnehmer gehören der sogenannten „verlorenen Generation“ an, welche in und mit der schweren Krise gross geworden sind und früh die Schwierigkeiten des Lebens kennenlernten. So zum Beispiel Agoney, eine der umstrittensten Figuren der Veranstaltung. Als einer der ersten homosexuellen Jugendlichen im liberalen Spanien der Neuzeit aufgewachsen (in Spanien darf man seit 9 Jahren ohne Einschränkung heiraten und ist gesetzlich gleichgestellt), schlug sich der heute Zweiundzwanzigjährige nach einem Musikstudium mit seinem Gesangstalent eher schlecht als recht singend in Hotelbars auf Teneriffa durch. Gut ausgebildet, keine richtigen Jobs – das Stigma einer ganzen Generation. Auch wenn Homosexualität im spanischen Fernsehen mittlerweile eine Normalität ist, gab das Thema immer wieder zu reden. Man erinnere sich an die 2006 für seine Zeit revolutionäre Serie „Fisica o Quimica“, in welcher das Thema breit behandelt wurde und dessen Hauptdarsteller nun zu den „Lehrern“ der OT-Akademie gehört. Unter Dauerbeobachtung der Kameras in der besagten Akademie machte erstaunlicherweise nicht der Sender selber sondern einfach die Zuschauer per sozialer Medien aus jeder Bewegung eine geheime Liebschaft oder Tragödie. Gut, auch jedes hinterletzte Blatt schrieb regelmässige Artikel zum Thema. Der transsexuelle Freund einer anderen Teilnehmerin war da nur noch Nebensache. Der geplante Kuss von Agoney mit einem nicht homosexuellen Teilnehmer im Rahmen eines Liebesliedes führte jedoch erneut zu einem Aufschrei. Im Staatsfernsehen, zur besten Sendezeit! Auch die fantastischen und zugegebenermassen sehr sexy aber ziemlich homoerotischen Choreografien professioneller Tänzer zu Agoney’s Lieder brachte das Blut der Spanier nur noch mehr in Wallung.

Agoney und Roul üben den berühmt gewordene Kuss

Breit wurde ausserdem diskutiert, ob das Wort „Maricón“ (zu Deutsch in etwa Marienkäfer aber mit der ungefähren Bedeutung von „Schwuchtel“) zu Recht plötzlich mit der Sendung Eingang in die Alltagssprache finden dürfe. Denn eine Jurorin benutzte das Wort um die ganze Gruppe der Teilnehmer anzusprechen und ihnen zu gratulieren, dass sie es eine Runde weitergeschafft haben. Auch die selber schwulen „Javi’s“, der erwähnte Schauspieler aus der Jugendserie „Fisica o Quimica“ und sein Mann, welche zufällig gleich heissen, nutzten das Wort innerhalb des Akademietrainigs inflationär. „Maricón“ hat nicht ganz die Bedeutung wie sein leider sehr negativ besetztes Pendant auf Deutsch, aber beinhaltet mindestens soviel Zündstoff. Zurück zum unschuldigen Agoney. Der brachte zusätzlich die mit Abstand grandioseste Stimme mit. Zwar noch ein roher Diamant, aber man konnte förmlich dabei zusehen, wie der Junge lernte mit seiner Waffe umzugehen. Ich sage nur Gänsehaut. Auch Jurymitlglieder sprachen sich deutlich für Agoney aus, der am Ende der Show als Hauptgewinn für Spanien an de Eurovision fahren sollte. Doch in den letzten Galen wechselte der Abstimmungsmodus und die Kandidaten waren komplett in den Händen der Zuschauer. Wer sich dabei wirtschaftliche Gedanken macht, der warte auf den nächsten Absatz. Pikant war auch, dass Agoney von allen als Favorit für den Eurovision Songcontest gehandelt wurde. Keiner der Kandidaten wollte so dringend dahin und war mit solch einer Stimme gesegnet. Aber Agoney wurde als erster abgewählt nach der Änderung  der Abstimmung zum Ende hin nur noch auf Zuschauervoting. Trotzdem durfte er für die letzte Gala und Entscheidungsshow für den Songcontest nochmal auf die Bühne zurückkehren, weil jeweils zu zweit ein Duett gesungen wurde, aber nur noch 5 Kandidaten übrig waren. War das Kalkulation? Zufall? Dass aber ein homosexueller Kandidat in der heutigen Gesellschaft leider noch immer keine Chance hat, solch ein Format in Spanien zu gewinnen, getraute sich die grösste Zeitung im Lande erst nach der Sendung und dann aber umso deutlicher zu schreiben. Im Internet tobte da schon längst ein breiter Diskurs, ja geradezu ein Krieg dazu. Mich erstaunte ja eher, dass LGBT-Themen natürlich gelebt bei uns zwar in Vorabendserien etwas rumgemurkst vorkommen, jedoch im (zumindest selbstproduzierten) Hauptprogramm nicht dermassen offen und integriert zu sehen sind. Spanien sieht noch gar nicht, was es da gerade für einen grossen Schritt getan hat. Danke TVE.

https://www.youtube.com/watch?v=6Lzw7oYTEMo

Der 24h-Kanal der Show auf Youtube

Agoney’s Weg durch die gesamte Show von Anfang bis Ende

Fernsehen im digitalen Zeitalter

Eine nette Nebengeschichte folgte nach dem Ende der Sendung, als die Gewinnerin das erste Mal twitterte und in ihrem ersten Tweet schrieb, sie hätte noch nie getwittert und geradezu Angst davor, ob ihr denn jemand helfen könnte. Und zack, hatte sie auch schon 730’000 Folger. Ob sie nach Abschluss der Sendung nun aus Marketinggründen gedrängt wurde, lässt sich nur spekulieren. Die Teilnehmer durften nämlich vorher während der Show in der Akademie von sich aus nur Instagram benutzen, andere soziale Netze waren verboten. Somit fand der Trash also nicht inszeniert im Fernsehen, sondern eben durch die Zuschauer initiiert auf dem Secondscreen statt. Ein Konzept das mehr als nur aufging. Natürlich tat TVE schon das seine dazu, es gibt da z.B. den 24h Live-Sender aus der Akademie, aber nur auf Youtube. Damit wird die Wirkung potenziert und die Konkurrenz von Youtube nicht länger ignoriert sondern geschickt instrumentalisiert. Noch nie hatte eine Sendung solche Aufmerksamkeit im Netz. Dem Staatsfernsehen brachte diese klare Haltung, die Abgrenzung und die professionelle Produktion auf relativ hohem Niveau eine verjüngtes Image in einer Zeit, in welcher er dieses dringend benötigt. Rechnet man nur schon die Einnahmen aus den Anrufen für die Abstimmungen hoch, dürften die läppischen 10,2 Millionen Produktionskosten längst wieder drin sein.

Raoul’s Rückblick

Typische Szene der BigBrother-Übertragung aus der OT-Akademie

Die hochprofessionelle Vermarktung im Netz schaffte es tatsächlich, die verwöhnten Millenials aus ihrer Netflix-Filterbubble heraus zu locken und wieder um das TV-Lagerfeuer der Achtzigerjahre zu versammeln. Eine durchaus historische Leistung. Man spricht wieder gemeinsam über eine Sendung, welche auch noch unter dem Deckmantel der Kulturförderung im Staatsfernsehen entstand. Und dieser Umstand lässt mir die Tränen in die Augen schiessen (ok, Agoney’s Stimme ist auch etwas Schuld daran). Während in meiner Heimat Schweiz über die Abstimmung des öffentlichen Medien abgestimmt wird und sich die Medienkrise bereits im Endstadium befindet (80% der Zeitungstitel z.B. befinden sich in der Hand von nur zwei grossen Konzernen und werden nur noch von einem rechten Parteimagnaten aus politischen Gründen konkurrenziert) sehe ich da plötzlich einen kleinen Hoffnungsschimmer am Horizont aufleuchten. Ich hoffe, dass es sich dabei nicht nur um Wetterleuchten handelt, sondern um einen ernsthaften Umbruch, der vormacht, wie Fernsehen, Bewegtbild generell, Internet, Kunst und Kultur neue Symbiosen eingehen können. Dass das ganze noch ausgerechnet mit dem Format der Talentshows bewiesen wird, ist geradezu unheimlich. Wieviel gut orchestrierte Absicht, Marktanalyse und Früchte erster Studiengänge in Sachen SocialMedia-Marketing dahinterstecken und wieviel einfach Zufall und Glück waren, wird uns TVE aber wahrscheinlich nicht verraten. Dass neue Finanzierungsmodelle von Medien immer öfters auf Qualität setzten, scheint jedenfalls nun endlich auch den klassischen Massenmedien aufzufallen. Manche Zuschauer berichten von einem regelrecht leeren Gefühl nach dem Ende von OT 2017. Erst jetzt würde ihnen auffallen, dass nicht nur der Montagabend durch das Format gefüllt war, sondern auch plötzlich Langeweile auf den eigenen sozialen Medien im Alltag herrsche, so ganz ohne die hassliebgewonnene Dauerberieselung von Meinungen und Videos über die Show durch seine Peers. Davon, sich so vernetzt und immersiv in das Leben seiner Zuschauer zu schleichen, können die meisten Medienproduktionen vorerst nur träumen. Alles in allem eine spektakuläre und gelungene Wiedergeburt im digitalen Zeitalter. Als geneigter Beobachter bleibe ich mit zarter Zukunftshoffnung auf eine bessere Welt zurück und weiss nicht so recht, ob meine Augen eben eher vom Weinen oder Lachen feucht geworden sind – aber auf jeden Fall wegen der Emotionen. Und so soll es doch sein, oder?

Agoney’s letzter Auftritt als noch vollwertiger Kandidat mit der gewagten Choreographie zu „Where have u been“

 

Quellen für diesen Artikel waren unter anderem: Der Standard, El Pais, 20minutos, TVE, Twitter, Youtube, das Standardwerk „Fernsehen in Spanien, Ursachen, Formen und Folgen der Ökonomisierung“ von Markus Riese und meine eigene Wenigkeit als gelegentlicher Zuschauer der Sendung.

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